100 Jahre Oktoberrevolution - Last und Chance für die Linke

Dr. Volker Külow

Gestern jährte sich zum 100. Mal der Jahrestag der russischen Oktoberrevolution. Wie immer über dieses Ereignis geurteilt wird: es ist eine Zäsur in der Menschheitsgeschichte. Erstmals wurde der Versuch unternommen, aus dem imperialistischen Weltsystem auszubrechen. Er sollte das Ende von Profitmacherei und Krieg bringen. Zunächst in Russland, dann in der ganzen Welt. Das ist heute zunächst ein Grund zum Feiern, denn mit dem roten Herbst 1917 verbanden sich große historische Chancen und Leistungen. In seinem 1994 veröffentlichten Weltbestseller „Das Zeitalter der Extreme“ charakterisiert der namhafte marxistische Historiker Eric Hobsbawm die Oktoberrevolution als ein für das 20. Jahrhundert „ebenso zentrales Ereignis, wie es die Französische Revolution von 1789 für das 19. Jahrhundert gewesen war.“ Und ergänzt an anderer Stelle: „Die internationale Politik des ganzen kurzen 20. Jahrhunderts seit der Oktoberrevolution … könnte am einleuchtendsten als ein Jahrhundertkampf der Mächte der alten Ordnung gegen die soziale Revolution beschrieben werden.“

Wir Heutigen kennen das folgende Jahrhundert. Wir wissen, was aus den Ideen und Idealen wurde. Wir wissen, dass die von 1917 eröffnete Epoche des Aufbaus des Sozialismus auch von tiefen Widersprüchen und Irrwegen bis hin zum Stalinismus und seinen Verbrechen geprägt war. Letztendlich scheiterte der europäische Sozialismus sehr unheroisch und weitgehend an sich selbst und mündete in eine Restauration des neoliberalen Kapitalismus. Angesichts dieser bewegten Geschichte ist das Jubiläum auch für die deutsche Linke und die gleichnamige Partei der Anlass, an die historischen Ursachen und weltgeschichtliche Bedeutung, an die mit der Revolution verbundenen Hoffnungen auf Frieden, soziale Befreiung und soziale Selbstbestimmung der Massen, aber auch deren Enttäuschungen zu erinnern. Auch die bürgerlichen Medien sind  dieser Tage voll von Beiträgen über die Oktoberrevolution und man spürt, wie tief der Stachel noch immer im Fleische der Herrschenden sitzt. Die FAZ charakterisierte am vergangenen Samstag die Ereignisse von 1917 gar als „Zivilisationsbruch“ und beschwor mit Blick auf die sozialistische Gesellschaftsordnung die „im Erbgut liegende Bösartigkeit“ des Systems.        

Sozialistinnen und Sozialisten bewerten die Fehler und Irrtümer natürlich anders; für uns bedeuten sie keineswegs, dass alles sinnlos und damit umsonst gewesen ist. Ohne die Revolutionen von 1917 bis 1922 hätte es die vielen Aufstände gegen den Krieg und für nationale und soziale Selbstbestimmung nicht gegeben. Das weltweite Kolonialsystem wäre nicht beseitigt und das sich zum Sozialismus bekennende China heute nicht auf dem Weg zur Weltmacht. Der Sieg der Sowjetunion über den deutschen Hitlerfaschismus im Zweiten Weltkrieg war vermutlich die bedeutendste historische Leistung des Sozialismus mit langfristigen Folgen bis in die Gegenwart, wie es Hobsbawm an anderer Stelle seines  klassischen Werkes dystopisch-dialektisch beschrieb: „Ohne die Oktoberrevolution bestünde die Welt (außerhalb der USA) heute wahrscheinlich eher aus einer Reihe von autoritären und faschistischen Varianten als aus einem Ensemble unterschiedlicher liberaler, parlamentarischer Demokratien. Eine der Ironien dieses denkwürdigen Jahrhundert ist, dass das dauerhaftestes Resultat der Oktoberrevolution – deren Ziel es ja war, den Kapitalismus weltweit umzustürzen – ausgerechnet die Rettung ihres Antagonisten im Krieg wie im Frieden war.“       
Die nach dem Zweiten Weltkrieg in Ost- und Mitteleuropa sowie in Asien und Lateinamerika entstandenen sozialistischen Staaten stellten die bis dahin größte Herausforderung für den Kapitalismus dar. Ohne sie und die zeitweise einflussreichen kommunistischen Parteien in Westeuropa wären weder das Ende des Kolonialismus noch das „sozialdemokratische Jahrhundert“ (Ralf Dahrendorf) mit seinen emanzipatorischen, demokratischen und sozialen Fortschritten im Westen denkbar. Trotz der teilweise bemerkenswerten sozialen und kulturellen Leistungen in der Sowjetunion und den anderen sozialistischen Ländern war es letztlich ihre systembedingte Reformunfähigkeit, die 1989-91 nicht nur das Ende des Staatssozialismus sowjetischer Prägung herbeigeführt, sondern auch die Ergebnisse der gesamten Fortschrittsgeschichte des 20. Jahrhunderts wieder zur Disposition gestellt haben.
Der 100. Jahrestag der Oktoberevolution wirft neben der Frage nach ihrer geschichtlichen, auch die nach ihrer aktuellen Bedeutung auf, insbesondere für die Suche nach erfolgversprechenden Wegen zu einem überlebensfähigen Sozialismus des 21. Jahrhunderts, wie die international sehr lebhaften Strategiedebatten und auch die Diskurse zum „Post-Kapitalismus“ zeigen. Um dieses Erbe zu heben, darf man die zahlreichen tiefen Widersprüche der Revolution von 1917 keinesfalls ausblenden. Manfred Kossok - dem 1993 im Alter von 62 Jahren leider viel zu früh verstorbenen Leipziger Revolutionshistoriker und Meisterschüler Walter Markovs - verdanken wir wesentliche Einsichten über diese Widersprüche. Seine nach 1990 dargelegten revolutionstheoretischen Überlegungen bergen für uns noch unabgegoltene Wegweisungen für linkes Denken und Handeln in der Gegenwart.  An ihn anknüpfend, werde ich nachher an den entsprechenden Stellen auf einige dieser Widersprüche genauer eingehen.  
Bevor es aber soweit ist, möchte ich in gebotener Kürze das damalige Geschehen Revue passieren lassen und wichtige Ereignisse und Einschnitte in Erinnerung rufen.    
Ohne die gravierenden imperialistischen Widersprüche, die 1914 zum ersten Weltkrieg führten und den damit verbundenen Zusammenbruch der II. Internationale führten, ist die Oktoberevolution nicht denkbar. Das zaristische Russland war Teil des Machtkampfes um die Neuaufteilung der Welt und zugleich das schwächste Kettenglied des Imperialismus, das mit der Februarrevolution begann zu zerbrechen. Die Februarrevolution und der Sturz des Zaren ereigneten sich als spontane Revolution der erbitterten Massen, ohne gezielte organisierte Vorbereitung durch eine politische Avantgarde. Ihre Weiterführung zu einer siegreichen sozialistischen Revolution dagegen war mit Spontaneität nicht zu machen. Sie bedurfte der systematischen Vorbereitung der Massen auf den Kampf um Übernahme und Ausübung der proletarischen Macht. Mögliche politische Form dieser Vorbereitung  waren die überall nach dem Vorbild der russischen Revolution von 1905 entstandenen Sowjets der Arbeiter, Bauern und Soldaten. Lenins Credo war dabei klar: er ging davon aus, dass eine siegreiche sozialistische Revolution mit der Provisorischen Regierung und mit der Bourgeoisieherrschaft brechen, deren Staat zerschlagen und einen neuen proletarischen Staatstyp schaffen müsse.

In seinen Studien über „Marxismus und Staat“ hatte sich Lenin Ende 1916 eingehend mit den Vorstellungen von Marx und Engels über den Staat im Allgemeinen und  über den bürgerlichen Staat und den Staat der Pariser Kommune von 1871 im Besonderen beschäftigt. In den Aprilthesen hatte er gegen den anfänglichen Widerstand der gesamten Führung der Bolschewiki in Petrograd (mit Ausnahme von Alexandra Kollontai) daraus Schlussfolgerungen für die Staatsfrage im Übergang zu einer sozialistischen Revolution gezogen. In „Staat und Revolution“ im September 1917 vertiefte er sein Staatskonzept. Er war der einzige Sozialistenführer, der angesichts der sich anbahnenden revolutionären Situationen an Erfahrungen der Pariser Kommunarden von 1871 anknüpfte, die Marx in seiner „Adresse des Generalrats der Internationalen Arbeiterassoziation“ und im „Bürgerkrieg in Frankreich“ theoretisch verdichtet hatte. In den berühmten Aprilthesen – geschrieben während der legendären Zugfahrt durch Deutschland - formulierte Lenin zusammen mit einer Lageeinschätzung und seinem Konzept des Übergangs zur sozialistischen Revolution ein Konzentrat des Marxschen theoretischen Entwurfs der Pariser Kommune: Die „Eigenart“ der Lage nach der Februarrevolution besteht „im Übergang von der ersten Etappe der Revolution …  zur zweiten Etappe der Revolution, die die Macht in die Hände des Proletariats und der ärmsten Schichten der Bauernschaft legen muß.“ (These 2.)
„Keinerlei Unterstützung der Provisorischen Regierung, Aufdeckung der Verlogenheit aller ihrer Versprechungen … Aufklärung der Massen darüber, dass die Sowjets der Arbeiterdeputierten die einzig mögliche Form der revolutionären Regierung sind … Solange wir in der Minderheit sind, besteht unsere Arbeit in der Kritik und Klarstellung der Fehler, wobei wir gleichzeitig die Notwendigkeit des Übergangs der gesamten Staatsmacht an die Sowjets der Arbeiterdeputierten propagieren, damit die Massen sich durch die Erfahrung von ihren Irrtümern befreien.“ (These 4.)
„Keine Parlamentarische Republik - von den Sowjets der Arbeiterdeputierten zu dieser zurückzukehren wäre ein Schritt rückwärts-, sondern eine Republik der Sowjets der Arbeiter-, Landarbeiter- und Bauerndeputierten im ganzen Land von unten bis oben. Abschaffung der Polizei, der Armee, der Beamtenschaft (d. h. Ersetzung des stehenden Heeres durch die allgemeine Volksbewaffnung). Entlohnung aller Beamten, die durchweg wählbar und jederzeit absetzbar sein müssen, nicht über den Durchschnitt eines guten Arbeiters hinaus.“ (These 5.)

Die bewegte russische Geschichte zwischen März und Oktober 1917 kann hier aus Zeitgründen nicht nachgezeichnet werden. Gestützt auf den Aufstand des Revolutionären Militärkomitees des Petrograder Sowjets am 7. November 1917  nahm der II. Sowjetkongress  am nächsten Morgen um 5 Uhr früh die Macht in seine Hände. Mit der Machtübernahme veränderten sich die politische Situation und die Richtung des Kampfes grundlegend. Der  II. Sowjetkongress verabschiedete sofort die Dekrete über den Frieden ohne Kontributionen und Annexionen, ein unvergängliches Denkmal der Oktoberrevolution. Dann folgte die Übertragung von Grund und Boden an die Kreissowjets der Bauerndeputierten und über die Bildung des Rates der Volkskommissare. Die Bolschewiki waren zur führenden Partei der Macht geworden, die sich mit Entscheidungen konfrontiert sah, für die es lediglich in den 72 Tagen der Pariser Kommune 1871 gewisse geschichtlichen Erfahrungen gab. Die Konterrevolution organisierte in Petrograd wenige Tage nach der Machtübernahme den Angriff einiger Kosakenabteilungen auf Zarskoje Selo und eine Meuterei der Offiziersschüler in Petrograd. In Moskau leistete die militärische Konterrevolution sechs Tage Widerstand. Bis Mitte März siegte die Sowjetmacht in einem Triumphzug im ganzen Land.
Am 16. Dezember 1917 übertrug ein Dekret die Macht in der Armee an die Soldatensowjets und Soldatenkomitees. Ränge, Titel und Orden wurden abgeschafft, die Kommandeure gewählt. Das Dekret vom 15. Januar 1918 verfügte die Gründung der Roten Arbeiter- und Bauernarmee. An Stelle der Polizei entstand eine den örtlichen Milizen unterstellte Arbeitermiliz. Bereits am 14. November 1917 war die Arbeiterkontrolle in den Betrieben eingeführt worden. Mit der Nationalisierung der Likino-Manufaktur in Petrograd am 17. November begann die Verstaatlichung der Großbetriebe. Das Dekret vom 5. Dezember schuf den „Oberster Rat der Volkswirtschaft“. Eisenbahnen, die Handelsflotte und die Privatbanken  gingen im Dezember 1917 an den proletarischen Staat bzw. die Staatsbank über. Am 20. Dezember konstituierte sich die „Allrussische Außerordentliche Kommission zum Kampf gegen Konterrevolution und Sabotage“ (Tscheka).  

Die Zerschlagung des bürgerlichen Staatsapparats ging einher mit der Staatswerdung der in den Sowjets konzentrierten Macht der Arbeiterklasse. Die proletarische Macht, die Diktatur des Proletariats, musste mit härtesten diktatorischen Mitteln verteidigt werden. Es war unabdingbar, den vorhandenen bürgerlich-gutsherrlichen  Staatsapparat samt seiner Organe (Armee, Polizei, Regierungsapparat und Verwaltung) zu zerschlagen; aber ohne deren Ersetzung durch neue Organe, das wurde deutlich, war die Sowjetmacht nicht handlungsfähig. Damit rückte eine Funktion der sozialistischen Demokratie in neuer Qualität in den Vordergrund: die der Sicherung der Arbeiter „gegen ihre eigenen Abgeordneten und Beamten“. (Friedrich Engels)
Mit der Nationalisierung der Betriebe und Banken wurde der Staat zum ökonomischen Zentrum, trat neben dem Kommunestaat der Eigentümerstaat mit eigenen Apparaten und der Aufgabe hervor, die Arbeitsproduktivität zu steigern und die Industrialisierung zu organisieren. Auf dem VII. Parteitag im März 1918 und in der „Ersten Skizze eines Programmentwurfs“ zog Lenin Konsequenzen für die Staatsfrage. „Wir sind jetzt unbedingt für den Staat… Mit dem Absterben des Staates hat  es noch gute Weile.“ Aber auch: „Bürokratie … beseitigen … Beginn der Realisierung dieser Möglichkeit.“
Sinn der Diktatur des Proletariats wurde „die Sicherung der Ordnung, der Disziplin, der Arbeitsproduktivität, der Rechnungsführung und Kontrolle“. Lenin forderte nach wie vor, „den Kommunestaat (zu) schaffen“, aber er verlangte auch eine hohe Bezahlung der Spezialisten und eine höhere Organisation der Arbeit, also Ergänzungen dazu; je „entschlossener“ wir für
„r e i n  e x e k u t i v e  Funktionen eintreten müssen, desto mannigfaltiger müssen die Methoden und Formen der Kontrolle von unten sein“   
Lenin machte sich im Frühjahr 1918 keine Illusionen über die Gefahren, die für eine sozialistische Revolution von der „asiatischen Rückständigkeit“ Russlands ausgingen. Seine Analyse der internationalen Situation kam zu dem Ergebnis, dass wahrscheinlich ein Land mit der Revolution beginnen werde, aber dann andere Länder folgen müssten. Lenin setzte daher wie alle seine Mitstreiter fast gläubig auf den Sieg der bevorstehenden Weltrevolution, denn er kannte die dramatische Warnung von Friedrich Engels in dessen Schrift zum „deutschen Bauernkrieg“ aus dem Jahr 1850:  „Es ist das Schlimmste, was dem Führer einer extremen Partei widerfahren kann, wenn er gezwungen wird, in einer Epoche die Regierung zu übernehmen, wo die Bewegung noch nicht reif ist für die Herrschaft der Klasse, die er vertritt, und für die Durchführung der Maßregeln, die die Herrschaft dieser Klasse erfordert. Was er tun kann, hängt nicht von seinem Willen ab, sondern von der Höhe, auf die der Gegensatz der verschiedenen Klassen getrieben ist, und von dem Entwicklungsgrad der materiellen Existenzbedingungen, der Produktions- und Verkehrsverhältnisse, auf dem der jedesmalige Entwicklungsgrad der Klassengegensätze beruht. Was er tun soll, was seine eigne Partei von ihm verlangt, hängt wieder nicht von ihm ab, aber auch nicht von dem Entwicklungsgrad des Klassenkampfs und seiner Bedingungen; er ist gebunden an seine bisherigen Doktrinen und Forderungen, die wieder nicht aus der momentanen Stellung der gesellschaftlichen Klassen gegeneinander und aus dem momentanen, mehr oder weniger zufälligen Stande der Produktions- und Verkehrsverhältnisse hervorgehn, sondern aus seiner größeren oder geringeren Einsicht in die allgemeinen Resultate der gesellschaftlichen und politischen Bewegung. Er findet sich so notwendigerweise in einem unlösbaren Dilemma: Was er tun kann, widerspricht seinem ganzen bisherigen Auftreten, seinen Prinzipien und den unmittelbaren Interessen seiner Partei; und was er tun soll, ist nicht durchzuführen. Er ist, mit einem Wort, gezwungen, nicht seine Partei, seine Klasse, sondern die Klasse zu vertreten, für deren Herrschaft die Bewegung gerade reif ist. Er muß im Interesse der Bewegung selbst die Interessen einer ihm fremden Klasse durchführen und seine eigne Klasse mit Phrasen und Versprechungen, mit der Beteuerung abfertigen, daß die Interessen jener fremden Klasse ihre eignen Interessen sind. Wer in diese schiefe Stellung gerät, ist unrettbar verloren.“
Auch Rosa Luxemburg sah im Sommer und Herbst 1918 von ihrem Gefängnis aus dieses Dilemma sehr genau. Ich kann hier aus Zeitgründen nur kurz auf ihre bekannte Gefängnisschrift „Zur russischen Revolution“ eingehen, die allerdings erst 1922 posthum von Paul Levi veröffentlicht wurde. In diesem Manuskript findet sich eine weitreichende Kritik am Demokratieabbau unter den Bolschewiki mit dem berühmten Zitat „Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden“. „Es ist die historische Aufgabe des Proletariats, wenn es zur Macht gelangt, an Stelle der bürgerlichen Demokratie sozialistische Demokratie zu schaffen, nicht jegliche Demokratie abzuschaffen. Sozialistische Demokratie beginnt aber nicht erst im gelobten Lande, wenn der Unterbau der sozialistischen Wirtschaft geschaffen ist, als fertiges Weihnachtsgeschenk für das brave Volk, das inzwischen treu die Handvoll sozialistischer Diktatoren unterstützt hat. Sozialistische Demokratie beginnt zugleich mit dem Abbau der Klassenherrschaft und dem Aufbau des Sozialismus. Sie beginnt mit dem Moment der Machteroberung durch die sozialistische Partei. Sie ist nichts anderes als die Diktatur des Proletariats.“
Rosa Luxemburg schildert aber auch die objektiven Zwänge, unter denen sich die Bolschewiki insbesondere nach dem Raubfrieden von Brest-Litwosk befanden. Insbesondere richtete sie ihr Augenmerk auf die bis dahin ausgebliebene Revolution im Westen, für das sie „das Versagen des deutschen Proletariats“ als eine wesentliche Ursache ausmachte. „Es hieße, von Lenin und Genossen übermenschliches verlangen, wollte man ihnen auch noch zumuten, unter solchen Umständen die schönste Demokratie, die vorbildlichste Diktatur des Proletariats und eine blühende sozialistische Wirtschaft hervorzuzaubern. Sie haben durch ihre entschlossene revolutionäre Haltung, ihre vorbildliche Tatkraft und ihre unverbrüchliche Treue dem internationalen Sozialismus wahrhaftig geleistet, was unter so verteufelt schwierigen Verhältnissen zu leisten war. Das Gefährliche beginnt dort, wo sie aus der Not die Tugend machen, ihre von diesen fatalen Bedingungen aufgezwungene Taktik nunmehr theoretisch in allen Stücken fixieren und dem internationalen Proletariat als das Muster der sozialistischen Taktik zur Nachahmung empfehlen wollen…. Die Bolschewiki haben gezeigt, daß sie alles können, was eine echte revolutionäre Partei in den Grenzen der historischen Möglichkeiten zu leisten imstande ist. Sie sollen nicht Wunder wirken wollen. Denn eine mustergültige und fehlerfreie proletarische Revolution in einem isolierten, vom Weltkrieg erschöpften, vom Imperialismus erdrosselten, vom internationalen Proletariat verratenen Lande wäre ein Wunder. Worauf es ankommt, ist, in der Politik der Bolschewiki das Wesentliche vom Unwesentlichen, den Kern von dem Zufälligen zu unterscheiden. In dieser letzten Periode, in der wir vor entscheidenden Endkämpfen in der ganzen Welt stehen, war und ist das wichtigste Problem des Sozialismus geradezu die brennende Zeitfrage: nicht diese oder jene Detailfrage der Taktik, sondern: die Aktionsfähigkeit des Proletariats, die Tatkraft der Massen, der Wille zur Macht des Sozialismus überhaupt. In dieser Beziehung waren Lenin und Trotzki mit ihren Freunden die ersten, die dem Weltproletariat mit dem Beispiel vorangegangen sind… Dies ist das Wesentliche und Bleibende der Bolschewiki-Politik. In diesem Sinne bleibt ihnen das unsterbliche geschichtliche Verdienst, mit der Eroberung der politischen Gewalt und der praktischen Problemstellung der Verwirklichung des Sozialismus dem internationalen Proletariat vorangegangen zu sein und die Auseinandersetzung zwischen Kapital und Arbeit in der ganzen Welt mächtig vorangetrieben zu haben. In Rußland konnte das Problem nur gestellt werden. Es konnte nicht in Rußland gelöst werden.“

Eine erfolgreiche Revolution im Westen blieb bekanntlich aus, auch und gerade in Deutschland, wo sich die SPD-Führer um Ebert, Scheidemann und Noske aktiv an der Niederschlagung der Novemberrevolution beteiligten, deren 100. Jahrestag wir 2018 begehen. Hier gilt noch immer das Diktum von Sebastian Haffner aus dem Jahr 1979: „Die deutsche Revolution von 1918 war eine sozialdemokratische Revolution, die von den sozialdemokratischen Führern niedergeschlagen wurde: ein Vorgang, der in der Weltgeschichte kaum seinesgleichen hat.“  

Diese Niederlage hatte nicht nur für die deutsche Geschichte, sondern auch für die russische Revolution schwerwiegende Folgen. Nach vier Jahren Weltkrieg und fast drei Jahren Bürgerkrieg plus „Kriegskommunismus“ war die Wirtschaft Sowjetrusslands Ende 1920 ruiniert. Während das Land im Weltkrieg rund vier Millionen Menschen verlor, starben im anschließenden Bürgerkrieg nahezu doppelt so viele.  Setzt man die Produktion der Großindustrie für das letzte Vorkriegsjahr 1913 gleich 100, dann lag das Niveau 1920 bei 12,8. Die Stahlindustrie war gar auf 4 Prozent des Vorkriegstands abgesunken. Vergleichbare Zerstörungen gab es in keinem anderen Land, das am Ersten Weltkrieg beteiligt war. Zum Vergleich: Jürgen Kuczynski nennt als tiefstes Niveau, auf das die deutsche Industrieproduktion mit dem Ersten Weltkrieg abgesunken war, für 1919 nur 38 Prozent.
Die Rückwirkungen dieses einmaligen Niedergangs der russischen Wirtschaft auf das gesellschaftliche Bewusstsein und die bolschewistische Partei waren verheerend. Moskau zählte 1921 nur noch die Hälfte und Petrograd nur noch ein Drittel der früheren Einwohnerschaft. Die tiefe Krise der neuen Ordnung zwang 1920/1921 zu einer einschneidenden Neuorientierung. Bauernaufstände, die meuternden Matrosen und Arbeiter in Kronstadt, anarchistische „Umverteilungen“ sorgten zusätzlich für Druck. Das politische Umdenken war schließlich vornehmlich Lenin zu verdanken: „Niemand und nichts kann uns zu Fall bringen als unsere eigenen Fehler.“ Dieser Stoßseufzer in der ersten großen inneren Krise der Sowjetmacht ist in der Folge allerdings kaum beherzigt worden.     
Dabei war insbesondere der Übergang zur „Neuen Ökonomischen Politik“ (NÖP) ab Anfang 1921 ein neues Erfahrungsfeld. Auf der Tagesordnung stand der Übergang zur Normalität des sozialistischen Aufbaus. Die auf dem X. Parteitag im März 1921 beschlossene NÖP mit Naturalsteuern in der Landwirtschaft und marktwirtschaftlicher Elemente in der Industrie trug der schwierigen Lage im Land Rechnung. Das führte zu einem deutlichen Anstieg der agrarischen und auch der industriellen Produktion. Damit verbunden war  zugleich eine enorme Stärkung der Marktkräfte im Handel und eine Klassenspaltung auf dem Lande.      

Nach dem XI. Parteitag, am 26. Mai 1922, erkrankte Lenin. Vom 2. Oktober bis zum 1. Dezember 1922 erlangte er seine Arbeitsfähigkeit nochmals wieder. Am 2. Dezember gab es einen erneuten Rückfall. Bis März 1923 war er nur noch in der Lage, Briefe und kürzere Artikel zu diktieren. Im letzten Zeitraum seines politisch aktiven Lebens erarbeitete er - wenngleich unvollkommen - Ansätze für einen demokratischen, entbürokratisierten, nicht zuletzt auf genossenschaftlicher Grundlage sich entwickelnden Sozialismus, der zumindest nachholend das geringe Kulturniveau im Vergleich zum Westen überwinden sollte. Der Kampf gegen die Bürokratisierung des „Arbeiterstaates“ und gegen den Abbau der parteiinternen Demokratie war allerdings davon überschattet, dass er diesen negativen Entwicklungen mit dem Fraktionsverbot in der Partei 1921 Vorschub geleistet hatte. Nicht zuletzt führte er einen Kampf gegen Stalin, dessen Rücktritt als Generalsekretär der Partei er forderte. Gleichzeitig förderte er Trotzki. Lenins „politisches Testament“ und seine letzten Briefe wurden in der Stalin-Ära verschwiegen und in der Sowjetunion erst 33 Jahre später unter Generalsekretär Nikita Chruschtschow publik gemacht.
Der frühe Tod Lenins gehört zu den tragischsten Momenten der sowjetischen Geschichte. Gerade 1923/1924 war eine Neujustierung des Fortgangs der Revolution fällig. Die  Bürokratisierung der Sowjetmacht und der Partei der Bolschewiki mussten gestoppt werden. Hilfe von außen, war nach dem Scheitern einer revolutionären Offensive im Oktober 1923 in Deutschland nicht mehr zu erwarten. Es galt, die Politik des NÖP bei der Industrialisierung zu einem tauglichen ökonomischen System des Sozialismus auszubauen. All das sollte jedoch nicht gelingen.
Stalin hatte bis 1923 seine Funktion geschickt genutzt, um die Kontrolle sowohl über das Politbüro als auch über den Parteiapparat zu erlangen. Im Politbüro (Lenin, Trotzki, Kamenew, Stalin, Bucharin, Sinowjew, Rykow und Tomski) verbündete er sich ab 1922 mit Kamenew und Sinowjew. Vor den Politbürositzungen sprach man jeweils das gemeinsame Vorgehen ab. Intrigen und Heuchelei gehörten zum politischen Tagesgeschäft. Konträre Meinungen zu Stalins Positionen oder Zweifel an seiner Führungsqualität wurden fortan als Angriffe auf „die Partei“ hingestellt. Mit dem Tod von Lenin nahm die Katastrophe dann ihren Lauf. Binnen weniger Monate wurde der „Leninismus“ - von dem Lenin selbst nie gesprochen hatte - aus der Taufe gehoben. Trotzki als von Lenin favorisierter Nachfolger wurde in der Parteipresse systematisch diffamiert und im Januar 1925 als Volkskommissar für das Kriegswesen abgesetzt. 1929 folgte die Verbannung. In der Zeit des großen Terrors nach 1935 ließ Stalin alle Politbüromitglieder des Jahres 1922 umbringen, Tomski beging 1936 Selbstmord, ebenso wurden 98 von 139 Mitgliedern des ZK umgebracht.
Aus diesem Anlass gestattet ein paar Bemerkungen zum Begriff Stalinismus. Er wurde viele Jahre als antikommunistischer und antisowjetischer Kampfbegriff verstanden und genutzt. Viele Linke lehnen den Begriff bis heute ab, weil er nur ein Schlagwort ohne inhaltliche Substanz zur Diffamierung des Sozialismus sei. Aber so einfach ist die Sache nicht und wir sollten sie uns auch nicht einfach machen, zumal bereits in den 1920er Jahren viele kluge Köpfe (nicht nur Trotzki und andere innerparteiliche Rivalen Stalins) innerhalb der kommunistischen Bewegung dazu prägnante Analysen vorlegten. Nicht jeder differenzierte Antistalinismus endete damals und später im antikommunistischen Renegatentum. Auch andere Marxisten wie Georg Lukács, Issak Deutscher, der unlängst mit 101 Jahren verstorbenen Theodor Bergmann oder Wolfgang Harich verwendeten in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg die Begriffe stalinistisch und Stalinismus.
Bei den folgenden Bemerkungen stütze ich mich auf das Buch von Alfred Kosing „’Stalinismus’. Untersuchung von Ursprung, Wesen und Wirkungen“, dass dieser namhafte DDR-Philosoph 2016 vorlegte. Er definiert den Stalinismus als ein ganzes System von Entstellungen des Sozialismus, das wesentlich mit den theoretischen Auffassungen Stalins - welche in vieler Beziehung eine Vulgarisierung und Entstellung des Marxismus bedeuteten - und mit seiner praktischen Politik verbunden war. Diese wiederum war durch exzessive Anwendung von Zwang und Gewalt zur Beschleunigung des gesellschaftlichen Fortschritts, durch die Schaffung eines dikatorischen Herrschaftssystems und  terroristische Willkür charakterisiert. Für die Entstehung, Herausbildung und volle Entfaltung des Stalinismus als System schlägt Kosing vier Etappen vor, die von 1923 bis 1953 reichten. Als eine fünfte Etappe sieht er die Zeit der Nachwirkungen nach Stalins Tod und die allmähliche Auflösung des Stalinismus an, die allerdings noch Jahrzehnte dauerte. Mit der Geheimrede Chruschtschows auf dem 20. Parteitag zum Personenkult im Jahr 1956 um Stalin geht Kosing schwer ins Gericht. Er sieht sie einerseits als Versuch einer kritischen Distanzierung, aber andererseits auch als eine Verharmlosung und Beschönigung, die in keinster Weise zum Wesen dieser Deformationen des Sozialismus vordrang. Die entscheidende Frage, wie derartige gesetzwidrige Willkürakte, massenhafte Repressalien und fürchterliche Verbrechen, unter denen Millionen unschuldige Menschen zu leiden hatten, nicht nur entstehen, sondern sich über Jahrzehnte ausbreiten konnten, blieben in dieser oberflächlichen Erklärung völlig offen.
Allerdings belichtet Kosing als Philosoph bei allen Verdiensten seines Buches zu wenig die realen historischen Prozesse des 20. Jahrhunderts und die grundlegenden Widersprüche bei der Entstehung und Ausprägung des Sozialismus, die schlussendlich auch die Entstehung des Stalinismus ermöglichten. Wie bereits angekündigt, möchte ich in Anlehnung an Manfred Kossok einige dieser letztendlich ungelösten Widersprüche kurz nennen:                                      
I. der zwischen dem Erfolg der Revolution in einem kapitalistisch rückständigen Agrarstaat an der Peripherie mit einer zahlenmässig kleinen industriellen Arbeiterklasse und der zwischen 1918-1923 sehnsüchtig erwarteten kommunistischen „Weltrevolution“ im Westen. Deren Ausbleiben führte dazu, dass der Sozialismus das „Zentrum“ des bürgerlichen Kosmos zwar erschütterte, aber nicht bis dorthin siegreich vordrang (auch nicht nach dem II. Weltkrieg). Dadurch kam es in der Sowjetunion gezwungenermaßen zum „Aufbau des Sozialismus in einem Land“, bei dem die „nachholende“ Revolution von 1917 trotz der nahezu verzweifelten Umsteuerungsversuche und Warnungen des todkranken Lenins 1922/1923 („politisches Testament“) ab Mitte der 1920er Jahre unter Stalin schrittweise in eine bürokratische „Entwicklungsdiktatur“ des Parteiapparates bzw. seiner Person umschlug.       

II. Im Gegensatz zur frühbürgerlichen Revolution ab dem 16. Jahrhundert, die bis 1789ff. mehrere Reifestufen und damit einen Revolutionszyklus hervorbrachte, der sich im 19. Jahrhundert weiterentwickelte, gelang es der sozialistischen Revolution ab 1917ff. nicht, einen ähnlichen Entwicklungs- und Reifeprozess hervorzubringen. Damit war untrennbar verbunden, dass es keine Revolutionierung der übernommenen kapitalistischen Produktivkräfte und keinen qualitativen Sprung der Arbeitsproduktivität gab.

III. Der Sozialismus brachte nicht nur keine höhere Produktivkraftentwicklung als der Kapitalismus hervor, sondern auch keine grundsätzlich höhere Form der Demokratie. Das historische Kernproblem besteht Manfred Kossok zufolge darin, dass keines der sozialistischen Länder die Phase des Citoyens, d.h. der erfolgreichen bürgerlichen Revolution, mit einem zumindest zeitweiligen und partiell realisierten Emanzipationsanspruch durchlaufen hat. Das führte zur Unterschätzung der Demokratie als eigenständige Frage der Sozialismusgestaltung und zur überwiegenden Betrachtung des Rechts als Mittel der Macht und nicht auch als Maß von Macht.

IV. Revolution bedeutet stets gesellschaftlichen Ausnahmezustand; die Gewalt ist der „Geburtshelfer“ der neuen Gesellschaft, formulierte Karl Marx treffend. Während in der bürgerlichen Revolution nach dem Thermidor die äußerste Gewalt zumeist in eine Institutionalisierung der „zivilen Gesellschaft“ mündete, blieb die Gewalt nach dem Bürgerkrieg in Russland bestimmend für die neue sozialistische Ordnung. Damit ging einher, dass bei Krisensituationen im Sozialismus (u.a. 1921, 1953, 1956, 1968, 1980) stets repressiv reagiert wurde und keine anhaltende reformerisch-innovative Anpassung des Sozialismus gelang.            

Damit möchte ich zum letzten Teil meines Vortrages überleiten, nämlich zu den heutigen Kämpfen und der Bedeutung des Erbes der Oktoberrevolution. An ihrem 100. Jahrestag sind von der früheren sozialistischen Staatenallianz nur noch einzelne Länder übrig. Kuba spielt nach wie vor eine wichtige Rolle in den Klassenkämpfen Lateinamerikas. Die Volksrepublik China ist zum global Player geworden und dabei, die USA als bisherige Wirtschaftsmacht Nr. 1 zu überholen. Ein „Brückenkopf“ des „Aufbaus des Sozialismus in einem Land“ ist China aber eher nicht mehr. Das „Reich der Mitte“ ist nichtsdestoweniger das Wichtigste, was im 21. Jahrhundert von der Oktoberrevolution übrig geblieben ist. Sein Einfluss auf die internationalen Beziehungen stärkt nachhaltig die Friedenskräfte.
Statt dem vermeintlichen „Ende der Geschichte“ herrscht eine Generation nach der Systemniederlage des europäischen Frühsozialismus von 1989 und dem gegenrevolutionären Epochenumbruch ein „neuer Imperialismus“, der ökonomisch von einem neoliberalen, deregulierten Finanzmarktkapitalismus geprägt ist, der sich allerdings seit 2007ff. in einer multiplen Krise befindet. Dem erfolgreichen Klassenkampf „von oben“ wie es der Multimilliardär Warren Buffet formuliert hat, vermögen die subalternen Klassen „von unten“ derzeit nur sehr wenig entgegensetzen.  Wir haben es in der Gegenwart offenkundig mit einer Übergangsepoche zu tun, einem Interregnum wie Gramsi 1930 in seinem dritten Gefängnisheft schrieb, bei dem „das Alte stirbt und das Neue nicht zur Welt kommen kann“. Gleichzeitig befinden wir uns im Übergang zu einem neuen, von Menschenhand geprägten Erdzeitalter, dem Anthropozän, das einzelne Marxisten zutreffender als Kapitalozän bezeichnen. Mit der beschleunigten Entfesselung des globalen Kapitalismus wächst nicht nur die weltweite Spaltung zwischen Arm und Reich exponential. Die natürlichen „Kipppunkte“ der globalen Entwicklung rücken infolge der ungebremsten kapitalistischen Dynamik immer näher. Wir steuern frontal auf die Brandmauern des planetarischen Systems zu. Die Alternative Sozialismus oder Barbarei -  zutreffender Untergang - wird somit noch stärker als am Ende des I. Weltkrieges zu einer Überlebensfrage der ganzen Menschheit.           
Der Übergang zum Sozialismus im 21. Jahrhundert kann sich aber nicht mehr auf den durch die Oktoberrevolution gesteckten Rahmen beziehen. Es ist schwer vorstellbar, dass ähnliche soziale und politische Rahmenbedingungen, wie sie 1917 in Russland bestanden, noch einmal eintreten werden. Deshalb sind die Oktoberrevolution und ihre Folgen weder ein Vorbild zur Nachahmung noch ein Argument zur Abschreckung künftiger Sozialistinnen und Sozialisten. Mit dieser Einsicht gewinnt man die Freiheit, Lenin und den „Leninismus“ als zeit- und kontextgebundenes Phänomen zu erkennen. Von der Sowjetunion lernen heißt unterscheiden lernen: zwischen der heroischen Erzählung der „Zehn Tage, die die Welt erschütterten“, die die subjektive Seite durchaus zutreffend widerspiegeln mag, und der Tatsache, dass die Bolschewiki einerseits Bedingungen ausnutzen, die nicht wiederholbar sind, und dass auch sie andererseits „nicht aus freien Stücken, nicht unter selbst gewählten Umständen, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen machten“, wie es Karl Marx im „18. Brumaire des Louis Bonaparte“ darlegte.
Kurz gesagt: Die „postkapitalistische“ Gesellschaftsform wird mit dem staatszentrierten Sozialismus der Vergangenheit kaum etwas gemein haben. Das schließt ein, dass der demokratische Sozialismus des 21. Jahrhunderts nicht auf  fossilen, sondern regenerativen Energieträgern basiert.  Auch staatstheoretisch und machtpolitisch muss ein (völliger) Neuanfang gefunden und gewagt werden. Marx und Engels haben keine geschlossen Staatstheorie hinterlassen. Die viel zitierte Diktatur des Proletariats findet sich in ihrem Werk nur einige Male. Durch den Begriff wurde es allerdings möglich, die Zerschlagung des bürgerlichen Staates mit dem Absterben des neuen, sozialistischen Staates („Halbstaat“) zusammenzudenken. Diese Vorstellung wurde von Marx und Engels 1871 gewonnen, als in der französischen Hauptstadt für 72 Tage die Diktatur des Proletariats embryonale Wirklichkeit war. Die Vision eines emanzipatorischen Rätesozialismus im Sinne des großen Vorbilds der Pariser Kommune ist das wichtigste Erbe der Staatsauffassungen von Marx und Engels, mit Abstrichen auch von Lenin, wenngleich dieser die Chance der Umsetzung 1917 letztendlich nicht nutzten konnte.

Derzeit gibt es in der linken Bewegung in der BRD kein alltagstaugliches Revolutionskonzept und keine Partei, die es umsetzen könnte. Das gilt für die LINKEN und die von ihr und der Rosa-Luxemburg-Stiftung favorisierte kritische Transformationsforschung ebenso wie für die zur Splitterpartei marginalisierte DKP und ihre antimonopolistische Reformalternative. Nicht alltagstauglich meint: sie erweisen sich nach allen jetzigen Erfahrungen als empirisch nicht anwendbar, betrachtet man den praktischen Einfluss, den diese Konzepte auf die politische Entwicklung in unserem Land haben.     

Auch die theoretischen Konzepte und die praktische Politik von J. Corbyrn, B. Sanders und J.-L. Mélenchon eröffnen bei aller positiven Dynamik (noch längst) keine revolutionäre Überwindung des Kapitalismus oder das Stellen der „Machtfrage“. Zumindest gelingt es ihnen auf der Grundlage einer enormen Massenbasis, teilweise erhebliche Gegenmacht aufzubauen und die tiefe Kluft in einigen imperialistischen Hauptländern zwischen der Zuspitzung der Krisenprozesse und dem Zurückbleiben des subjektiven Faktors schrittweise zu schließen und sogar partiell zu überwinden.

Die Machtstrukturen des globalen Kapitalismus sind in der multiplen Krise der letzten Jahre zweifellos fragiler geworden. Keines der mit dem Imperialismus verbundenen Menschheitsprobleme, die 1917 in Russland zum Umsturz führten, ist seither verschunden. Das Verlangen nach progressiven, linken (noch nicht sozialistischen) Alternativen zur Teufelsmühle des totalitären Neoliberalismus wird deutlicher, zunehmend werden aber auch von rechts Scheinalternativen angeboten – der Sieg einer (proto)faschistischen Massenbewegung als mögliche Herrschaftsoption des autoritären Kapitalismus in einem oder mehreren Ländern nimmt an Wahrscheinlichkeit zu. Die 1920er und 1930er Jahre scheinen zurückzukehren.   

Auf Grund der konkreten Erfahrungen mit den Revolutionen des 20. Jahrhunderts haben revolutionäre Bestrebungen zur Überwindung des Kapitalismus einschließlich der Schaffung einer neuen Staatsmacht derzeit einen sehr schweren Stand. Das gilt nach der neoliberalen Wende vieler sozialdemokratischer Parteien auch für das entsprechende Reformmodell. Wie ein zeitgemäßes revolutionäres Subjekt aussehen kann, ist derzeit (noch) weitgehend offen: der globale Gesamtarbeiter, die Weltarbeiterklasse oder das Multiversum der Ausgebeuteten in seiner ganzen Differenziertheit ist eine Möglichkeit. Neben den traditionellen Arbeiter- und (!) Bauernbewegungen (z.B. in Lateinamerika, Südostasien) gibt es die seit längerem weltweit aktive Friedens-, Umwelt- und Frauenbewegung sowie die Globalisierungskritiker. Ob diese  progressiven Kräfte einzeln oder gemeinsam die herrschende Weltordnung nicht nur in Frage stellen, sondern künftig auch ernsthaft gefährden können, kann nur die Zukunft beantworten.     

Ehrlicherweise muss man einräumen: Die Klassenmachtverhältnisse sind heute in den kapitalistischen Metropolen deutlich ungünstiger als 1917 in Russland. Das Kapital konnte schon vor dem Epochenumbruch 1989/1991 national und in den meisten Regionen der Welt eine stabile hegemoniale Herrschaftskonstellation zu seinen Gunsten herbeiführen. Die in den  letzten Jahrzehnten strukturell veränderte Arbeiterklasse ist als politischer Akteur mit wenigen Ausnahmen in einer tiefen Krise. Fast alle politischen Kämpfe der letzten Jahrzehnte hat sie verloren. Ihr politischer und gewerkschaftlicher Organisationsgrad ist gering. Ihre Parteien sind zumeist schwach oder strategisch hilflos. Das Kapital sitzt national und international politisch fest im Sattel. Die einstige Allianz von Teilen der Arbeiterklasse und dem Marxismus in Gestalt der Kommunistischen Parteien ging weitgehend verloren. Ohne politische Aufklärung im Geiste von Karl Marx aber wird es keine gesellschaftliche Kraft geben, die eine neue Gesellschaft, den Sozialismus des 21. Jahrhunderts, erkämpft.
 
Die heutige europäische Linke kann und sollte aber nicht nur von Marx, sondern durchaus auch von Lenin lernen, ohne ihn zu kopieren. Sie muss es tatsächlich anders machen als er damals. Die am Dienstag in der Tageszeitung „neues deutschland“ von Michael Brie dargelegte Analyse von Lenins theoretischem Schaffen in den Jahren 1914-1917 ist dafür vorbildhaft: er nennt acht Anregungen, was wir von Lenin in Zeiten der Ohnmacht lernen können. Ohne konkretes Nein, ohne dialektische Praxisphilosophie, ohne eigene Erzählung, ohne strategische Gesellschaftsanalyse, ohne Epochenverständnis und Szenarien, ohne eine emanzipatorische Vision mit ihren Widersprüchen und ohne im Konsens erarbeitete Einstiegsprojekte bleibt es bei der heutigen Ohnmacht der Linken in Europa. Sie wird dem Aufstieg der Rechten und dem Durchwursteln des herrschenden Blocks nichts entgegensetzen können. Eine neue Krise wird sie unvorbereitet vorfinden. Sie wird die Chancen einer offenen Situation nicht ergreifen können. Deshalb: Lasst uns gemeinsam bei Lenin in die Schule gehen, um emanzipatorische Gesellschaftsveränderung anders als er zu machen. Das zumindest sollte kein Traum bleiben.
In diesem Sinne sollte sich DIE LINKE weiterhin mit den historischen Wirkungen, Leistungen und Fehlleistungen der Russischen Revolutionen 1917 kritisch auseinandersetzen. Sie kann dabei positiv an die Tradition radikaler und aktiver Kriegsgegnerschaft, den entschlossenen und organisierten Kampf gegen kapitalistische Verhältnisse und den mit ihm verbundenen Fortschritten bei der Gleichstellung der Geschlechter, dem Brechen des bürgerlichen Bildungsprivilegs und weiteren großen kulturellen Leistungen anknüpfen. Zugleich muss sie aus den Erfahrungen des sozialistischen Versuchs erkennen, dass die Schwierigkeiten und Widersprüche sozialistischer Umwälzungen erst offenbar werden, wenn sie praktisch versucht werden und sich die berühmten „Mühen der Ebene“ zeigen. Die Überwindung der damit verbundenen Probleme wird nur auf breiter demokratischer Grundlage erfolgen können, denn auch das lehren die beiden russischen Revolutionen von 1917: Ohne Demokratie kein Sozialismus.
Damit komme ich zum letzten Satz: Die Kanonensalve des Panzerkreuzers „Aurora“, die die Oktoberrevolution und mit ihr eine neue Epoche einleitete, hallt bis heute nach; im kollektiven Bewusstsein der Menschen mahnt sie den nächsten historischen Schritt an.    

Dr. Volker Külow, Vortrag Leipzig, 8. November 2017