DIE LINKE - Wie weiter?

DIE LINKE. Leipzig

Leipziger Stadtvorstand beschließt Antrag auf Einberufung eines Außerordentlichen Parteitages

Zur Vorstandssitzung am 14. März wurde der von unserer Basis stammende Antrag mit dem Titel „Einberufung eines Außerordentlichen Parteitages“ einstimmig votiert.

 

Liebe Genossinnen und Genossen,

der Vorstand des Stadtverbandes DIE LINKE. Leipzig hat am 14. März 2023 den Antrag von Michael Lauter (Zum Interview mit Micha) einstimmig positiv votiert. Dieser Antrag trägt den Titel „Einberufung eines Außerordentlichen Parteitages“. Zuvor hatte der Stadtvorstand in seiner Klausur am 3./4. März intensiv über die Lage der Partei DIE LINKE beraten. In dieser Beratung standen die Auswertung des „Heißen Herbstes“, die Ereignisse rund um den 24./25. Februar (Antikriegsdemos in Leipzig und Berlin) und das Zerwürfnis der Partei mit unserer Genossin Sahra Wagenknecht im Zentrum der Debatte. Wir können feststellen, dass die politischen Entwicklungen in der Gesellschaft und in unserer Partei einen großen Handlungsbedarf notwendig machen. Da die Idee eines Antrages für einen außerordentlichen Parteitag bereits im Raum stand, wurde er in dieser Diskussion als ein möglicher Handlungsansatz in Erwägung gezogen. Wir wollen eine gemeinsame Partei DIE LINKE, die eine größtmögliche politische Einheit des linken Spektrums unter einem Organisationsdach, inklusive einer politischen Säule für dessen Position auch Sahra Wagenknecht steht, abbildet.

Wir haben mit den Leipziger Doppelbeschlüssen unter den Titeln „Einberufung eines Außerordentlichen Parteitages“ und „Verständigung und Versöhnung sind das Gebot der Stunde für DIE LINKE – Ansätze zur Rettung und Zukunft unserer Partei“ unsere Perspektive auf die aktuelle Lage unserer Partei dokumentiert und mögliche Handlungsansätze zur Problemlösung formuliert. Gern stehen wir dafür Rede und Antwort (Kontakt).

Der Beschluss zur Einberufung für einen außerordentlichen Parteitag ist ein Mittel der Kreis- und Stadtverbände zur politischen Partizipation – eine mögliche Ermächtigung der Basis. Der Verweis auf finanzielle und organisatorische Hinderungsgründe durch die „Bundesebene“, die vielfach über die jeweiligen Landesverbände an die Stadt- und Kreisverbände postuliert werden, ist nur zum Teil nachvollziehbar und wird im Folgenden unsererseits erörtert (siehe unten). Wir sind weiterhin alle sehr gut beraten, die aktuelle Situation unserer Partei nicht zu bagatellisieren. Selbstverständlich gibt es – je nach eigener politischer Perspektive – eine Vielzahl an Einschätzungen, was die Ursachen für die Schieflage ist. Aber das diese Krise existiert, sollte nicht in Abrede gestellt werden. Nicht nur der Stadtvorstand von DIE LINKE. Leipzig sieht einen erheblichen Handlungsbedarf und dokumentiert diese durch seine Beschlüsse. Uns ist klar, dass dieser Antrag als Affront gewertet werden kann, aber wir sehen ihn nicht grundsätzlich als Misstrauensvotum, sondern vielmehr als ein Wachrütteln zum notwendigen Dialog.

Unsere Partei DIE LINKE kann die nötige sozialistische Kraft im Herzen von Europa sein, wenn sie den innerparteilichen Diskurs in einer vernünftigen Art und Weise führt. Wir haben die Hoffnung nicht aufgegeben, dass wir die Differenzen überwinden und dadurch die notwendige gesellschaftliche Einflussmöglichkeit (zurück)erlangen. Wir erwarten von prominenten Persönlichkeiten und den entsprechenden Spitzengremien einen vertrauensvollen Dialog mit dem Ziel einer Verständigung, so dass wir mit einer starken, geeinten LINKEN in diesem Land den Kampf für soziale Gerechtigkeit, für den Frieden und gegen den Raubbau an der Natur durch das kapitalistische Verwertungssystem führen können.

Wir bitten euch, lasst uns gemeinsam einen Weg aus den gesellschaftlichen Krisen und der Krise unserer Partei finden.

Wir werden das gemeinsam schaffen!

Ich habe diese Hoffnung nicht aufgegeben,

Adam Bednarsky
Vorsitzender DIE LINKE. Leipzig

Leipzig, 30. März 2023

 

Hintergründe zum Antrag

Am 15. März wurde der Antragsbeschluss unseren beiden Parteivorsitzenden und dem Bundesgeschäftsführer zur Kenntnis gegeben. Im Anschluss wurden zahlreiche außerordentliche Gremienberatungen auf Bundes- und Landesebene angesetzt und erste Meinungsbilder zum Antrag zusammengetragen. Am 20. März hat die Geschäftsstelle des Stadtverbandes Leipzig gemäß Beschlusslage Punkt 2.) alle Kreisverbände unserer Partei über den Antrag informiert und um Beratung und ggf. Votierung ersucht. Hintergrund dafür ist folgenden Passus aus §17 Absatz 4b unserer Bundesgeschäftsordnung:

Der ordentliche oder ein außerordentlicher Parteitag muss unverzüglich unter Wahrung der vorgesehenen Fristen einberufen werden, wenn dies schriftlich und unter Angabe von Gründen beantragt wird: … durch Landes- und Kreisverbände, die gemeinsam mindestens ein Viertel der Mitglieder vertreten.

Ein außerordentlicher Parteitag kann nur bei der Einhaltung des entsprechenden Quorums einberufen werden. Wir werden euch über den aktuellen Stand der Rückmeldungen und Unterstützung des Antrages auf dem Laufenden halten.

 

Medienberichte:

"Leipziger Linke wollen Sonderparteitag" - Sächsische Zeitung vom 21. März 2023

"Scherbengericht in der LINKEN" - ND vom 23. März 2023

"Linken-Geschäftsführer: Kein Sonderparteitag" - Freie Presse vom 25. März 2023

"Wagenknecht muss Klarheit schaffen" - Frankfurter Rundschau vom 26. März 2023

"Die Linke und das "Wagenknecht-Problem" - Heute Journal vom 28. März 2023

"Es gibt eine wachsende Unzufriedenheit" - junge Welt vom 30. März 2023

 

Unsere Anmerkungen zur Debatte

(25. März 2023, aktualisiert am 4. April 2023, Johannes Schmidt)

Die Diskussionen um den Vorschlag für einen außerordentlichen Parteitag schlugen bereits in den ersten Tagen größere Wellen. Als maßgebliche Idee diente offenbar ein Kommentar von Michael Brie im ND mit dem Titel: „Ukraine-Krieg: Linker Sonderparteitag nötig - Warum ein Sonderparteitag zur Friedensfrage für einen Neuanfang in der Linken sorgen sollte“(24.02.2023). Am Tag der Veröffentlichung fand ebenso zum ersten Jahrestag des Krieges unsere Kundgebung unter dem Motto „Verhandlungen statt Panzer! Eskalationsspirale beenden! Stoppt den Krieg gegen die Ukraine!“ in Leipzig statt. Dort wurden Vertreter des Leipziger Stadtvorstandes erstmals von einem Genossen aus der Parteibasis auf diesen Vorschlag angesprochen, die ersten Reaktionen und internen Gespräche dazu waren eher skeptisch bis „ungläubig“. Kurz darauf fand am 3. und 4. März eine Klausurtagung in unserem Vorstand statt, wobei der grundsätzliche Vorschlag zwar nur nebenläufig, jedoch dafür recht kontrovers diskutiert und abgewogen wurde. Einzelne der nun häufig geäußerten Kritikpunkte und weitere Einwände wurden dabei bereits vorgetragen – jedoch wiegte keiner der Einwände so schwer, den Vorschlag generell gedanklich vorab abzulehnen. Wenige Tage später lag ein Beschlussvorschlag durch den Antragsteller zur Abstimmung im Stadtvorstand vor und wurde einstimmig beschlossen. Nun sind wir in der Pflicht, den Antragsinhalt mit Leben zu füllen oder zu verwerfen. Dazu gehören eine nachvollziehbare Interpretation, Erklärung und Auslegung der Beschlusslage. Dieses Arbeitspapier hier ist zwar vorläufig, soll jedoch fortlaufend dazu beitragen, die Debatte sachlich zu begleiten – dieser Text sollte aber dementsprechend auch als Entwurf einer Einzelperson bewertet werden.

Es ist wichtig zu bedenken, dass ein Sonderparteitag allein nicht alle Probleme der letzten Jahre lösen wird – er kann jedoch Anstoß dazu sein. Das bedarf einer breiten, ehrlichen, selbstkritischen Diskussion innerhalb der Partei sowie verbindliche, demokratisch legitimierte Analysen, Feststellungen und nächste konkrete Schritte, um die Ursachen der Parteienkrise zu verstehen und einen gemeinsamen Lösungsweg zu erarbeiten – warum dann nicht im höchsten Organ unserer Partei mit der stärksten demokratischen Legitimierung?

In der Debatte zur Abwägung für oder gegen einen solchen Sonderparteitag fällt nun jedoch auf, dass viele Einwände sich nicht bzw. kaum auf den Beschlusstext konzentrieren sowie sich indirekt aber teilweise auch direkt auf die generelle Sinnhaftigkeit außerordentlicher Parteitage beziehen. Das steht zumindest (gefühlt) im Konflikt zur Idee, dass dieses Format für „besondere politische Situationen“ laut Satzung vorgesehen ist und sich beispielsweise bereits dadurch legitimiert, wenn Landes- und Kreisverbände, die gemeinsam mindestens ein Viertel der Mitglieder vertreten, diese Einschätzung teilen. Weitere Kriterien sieht unsere Satzung der Partei von DIE LINKE nicht vor. Dennoch möchten wir auf einige der häufig genannten kritischen Punkte eingehen.

 

Einwand 1: "Eine veränderte Beschlussfassung ist unwahrscheinlich."

Die ersten Diskussionen der letzten Tage zeigen, dass dieses Argument häufig auf eine grundlegende Korrektur zur Beschlusslage vom Erfurter Parteitag 2022 abzielt. Der Beschlusstext bezieht sich dagegen auf eine gemeinsame Analyse, Begründung / Fundierung / Konkretisierung bisheriger Beschlüsse (inkl. gegebenenfalls strittiger Punkte) und eine verbindliche Maßnahmenableitung (Stichworte: Handlungsfähigkeit, Funktion der Partei, strukturelle und personelle Veränderungen, Bündnisarbeit, Anstoß für programmatische Debatte und Weiterentwicklung des Parteiprogramms) – explizit: eine Ab- oder Neuwahl des Parteivorstandes findet sich nicht in den Beschlusspunkten des Antrages. Der aktuelle Parteivorstand kann auch nicht die Schuld für die Entwicklung der letzten Jahrzehnte allein auf seinen Schultern tragen bzw. dafür verantwortlich gemacht werden (er ist Abbild unserer Partei - und umgekehrt). Aber er steht dafür in der politischen Verantwortung. Dafür ist er angetreten, dafür wurde er gewählt.

 

Einwand 2: „Es sind doch die gleichen Delegierten – was bringt das dann?“

Als zweiter Punkt wird häufig eine vertiefte bzw. verfestigte machtförmige Lagerbildung (dieser Punkt wird im Folgenden nicht bestritten) aus der Partei angemahnt, sodass die aktuellen Delegierten voraussichtlich keine „neuen“ Entscheidungen treffen werden. Dieses Argument setzt offensichtlich die Idee eines Machtkampfes, um eine Korrektur vs. Beibehaltung der bisherigen Beschlusslage aus 2022, voraus und verzerrt bzw. missinterpretiert den Antragstext (siehe Hinweise zum Einwand 1). Des Weiteren attestiert es wohl (ungewollt) der Mehrheit der jetzigen Delegierten, dass diese der „besonderen politischen Situation“ und der Existenz-gefährdende Zuspitzung auf einem Parteitag nicht gerecht werden wollen oder zumindest nicht können bzw. selbst in der aktuellen Dramatik das Überleben der LINKEN ihren persönlichen, machtpolitischen Beweggründen unterordnen. Dieser Umstand würde folgerichtig ebenso auf sämtliche folgende Parteitage zutreffen, sofern keine Spaltung der Partei erfolgt oder beabsichtigt ist. Eine verfestigte und machtförmige Lagerbildung löst sich schließlich nicht von selbst auf, sodass erfahrungsgemäß auch die kommenden Parteitage sehr ähnlich bzgl. der verschiedenen Positionen zusammengesetzt sein werden – das jedoch stellt Parteitage bzw. unsere Partei bzgl. einer programmatischen Weiterentwicklung generell in Frage.

 

Einwand 3: „organisationspolitische Bindung der Kräfte der Partei“

Natürlich ist ein Sonderparteitag mit Aufwand und einer Anpassung der aktuellen Aufgabenplanung verbunden. Dieses Argument spricht sich jedoch eher grundsätzlich gegen außerordentliche Parteitage aus, da die Erfahrung der letzten Jahre zeigt, dass es wohl nie oder nur sehr selten einen günstige(re)n Zeitpunkt gab und unter dieser Prämisse auch in Zukunft wohl nicht geben wird (bzw. nur in guten Zeiten, in denen sie nicht notwendig wären). Dazu ist das Format laut Satzung explizit für besondere politische Situationen vorgesehen – und die derzeitigen Zuspitzungen innerhalb der Partei sind offensichtlich existenzbedrohend. Dazu könnte (sofern überhaupt ein Quorum von 25 % aller Kreisverbände erreicht wird) eine rege Beteiligung und Unterstützung in Vorbereitung und Umsetzung mindestens aus eben jenen Kreisverbänden erwartet werden (wie wären natürlich bereit dazu).

 

Einwand 4: „Die Partei würde bis zum Sonderparteitag in gesteigerter Form im öffentlichen Dissens auftreten“

Insbesondere die Zuspitzungen um personalisierte Konflikte in der Partei bis hin zu Äußerungen und Ideen zu Abspaltungen und Parteineugründungen der letzten Tage, Wochen und Monate (derartige Überlegungen kommen aus verschiedenen „konkurrierenden“ Richtung aus der LINKEN bzw. gesellschaftlichen Linken) zeigen, dass dieser Umstand auch ohne Einberufung eines Sonderparteitages seit Jahren bereits besteht (Beispiele gibt es unzählige, vergangene Parteiaustritte sind nur eine Folge dieser Zustände) und sich beispielsweise bzgl. Sahra Wagenknecht und sympathisierende Akteure voraussichtlich noch in diesem Jahr eskaliert bzw. entscheidet. Dementsprechend stehen wir bzgl. öffentlichem Dissens schon jetzt mit dem Rücken zur Wand. Ein außerordentlicher Parteitag vor diesem Hintergrund könnte ein Zeichen der Verständigung und Versöhnung setzen und eine Spaltung abwenden oder wenigstens für einen Abschluss und Klarheit sorgen, gleichzeitig mit verbindenden Impulsen, um eine Kettenreaktion in der Mitgliedschaft und in Teilen der Wählerschaft zu vermeiden.

 

Einwand 5: „Im Herbst ist ohnehin ein Bundesparteitag“

Der Parteitag vom 17. Bis 19. November 2023 inklusive Bundesvertreter*innenversammlung zur Wahl Bundesliste für die Wahlen zum Europäischen Parlament 2024 steht in seinem derzeit geplanten Format vollständig im Zeichen der Europawahl. Das Anliegen dieses außerordentlichen Parteitages kann und wird vor diesem Hintergrund dort nicht erfüllbar sein können. Insbesondere empfiehlt sich vor der aktuellen zugespitzten Konfliktsituation eine Verständigung und Versöhnung oder zumindest Klärung, gerade vor dem Hinblick der Idee und Diskussion um eine „Liste Sahra Wagenknecht“. Ansätze und Versuche zur Auflösung von Konflikten sowie die Aufarbeitung grundlegender programmatischen Defizite (vgl. Herausforderungen für einen solidarischen Aufbruch der Rosa Luxemburg Stiftung) sind demnach in eher themenspezifischen Parteitagen (wie im November 2023) sowie im Zusammenhang mit Personenwahlen für Listen und Vorstände stets schwieriger zu gestalten, da der Kampf um aussichtsreiche Listenplätze und Mehrheiten im Parteivorstand einer offenen und konstruktiven Debatte entgegenstehen kann. Basierend auf dieser Überlegung scheint die Einberufung von außerordentlichen bzw. zusätzlichen Parteitagen jetzt oder in naher Zukunft unvermeidbar und geboten.

 

Einwand 6: „Die Kosten sind erheblich bei angespannten Finanzen“

Das Argument ist valide. Zur Diskussion steht aus einer eher pessimistischen Sichtweise derzeit jedoch die Existenz unserer gemeinsamen Partei inklusive der Gesamtheit bzw. einem Großteil an Ressourcen. Des Weiteren muss natürlich im Vorfeld diskutiert werden, welche Abstriche bzw. Alternativen in der Organisation und Konzeption zu einer Kostenreduktion im Vergleich zu vorherigen Parteitagen führen können. Aufgrund der angespannten finanziellen Situation sind diese Überlegungen bzgl. der tendenziell schlechter werdenden Wahlergebnisse generell notwendig.

 

Einwand 7: „Beschlüsse von Kreisvorständen sind (in diesem Fall) undemokratisch und müssen zurückgewiesen werden“

Wie in anderen Kreisverbänden entscheidet der 15-köpfige Stadtvorstand aus Leipzig im Namen für 1.450 Mitglieder, ebenso wie zum Beispiel der 18-köpfige Landesvorstand aus Sachsen für 6.220 Genoss*innen und der 26-köpfige Parteivorstand für 54.214 Menschen in unserer Partei - auch bzgl. (außerordentlichen) Parteitagen (Mitgliederzahlen, Stand 31.12.2022 i. d. R. ohne Zahlungssäumige). Es ist somit eine grundlegende Eigenschaft und Funktionsweise demokratischer Prozesse in einer Partei. Des Weiteren sind die Vorstände auf Parteitagen der jeweiligen Ebene gewählt und entsprechend demokratisch legitimiert. Der tatsächliche Vorwurf hierbei lautet demnach entweder, dass eine Kompetenzüberschreitung vorliegt bzw. dass ein entsprechender Vorstand nicht (mehr) die Meinung der Mehrheit vertrete oder nicht im Vertrauen/ Sinne derer handle, die ihn ursprünglich gewählt hatten. Natürlich wäre eine Entscheidung auf sämtlichen Kreisparteitagen oder mittels Mitgliederentscheiden noch demokratischer. Dieser Umstand würde jedoch einen derartigen Paragrafen der Satzung in der Praxis für sämtliche Kreisverbände fast unmöglich gestalten, um auf akute Situationen reagieren zu können oder steht mindestens im Widerspruch bzw. in Konflikt zu Einwand 3 und/oder Einwand 6 stehen bzgl. der organisationspolitischen Bindung der Kräfte der Partei bzw. Kosten. Problematisch wird das Argument, wenn bspw. nur zustimmende Abstimmungen aus Kreisvorständen kritisiert werden, weil man selbst ablehnend reagiert hätte - das gilt natürlich auch umgekehrt. In jedem Fall erscheint dieser Einwand interessant für eine breite Debatte und (nachträgliche) Klärung mit Mitarbeiter*innen bzgl. Satzungsformalia oder Schiedskommissionen, welche Funktionen und Rollen Kreisvorstände überhaupt innehaben sollten und welche nicht.

 

Hinweis: Die Bearbeitung und Kommentierung dieser Einwände soll dabei keine generelle Widerlegung oder Zurückweisung der dahinterliegenden Bedenken darstellen. Vielmehr soll es aufzeigen, dass diese nicht derart eindeutig sind, wie es derzeit häufig in manchen Gesprächsrunden geäußert wird. Diese Argumente wurden und werden somit nicht einfach „links“ liegengelassen, sondern sind normaler und wichtiger Bestandteil des eigenen Abwägungsprozesses. Ebenfalls sind es nicht sämtliche geäußerten Einwände, sondern primär solche, die häufiger vorkommen, offenbar schwerer gewichtet sind und damit zu Rückfragen aus den Kreisenverbänden und der Parteibasis führen, da sie u. a. in Statements aus den Reihen von Kreis-, Landesverständen oder Parteivorstand auftauchen.

 

Weitere Punkte und Informationen werden hier voraussichtlich in den kommenden Tagen folgen.

 

Persönliche Abwägung und Begründung

Begonnen hatten die Idee des Initiators sowie diese Stellungnahme mit dem Hinweis auf einen Kommentar von Michael Brie im ND. Daher möchte ich meine persönliche Begründung daran anschließen. Michael Brie ist Vorsitzender des wissenschaftlichen Beirats der Rosa-Luxemburg-Stiftung und Mitglied der Arbeitsgruppe «Zukunft der Partei DIE LINKE». Diese veröffentlichte im Juni 2022 eine Publikation mit dem Titel: „Eine starke Partei DIE LINKE ist möglich und wird gebraucht! Zehn Herausforderungen für einen solidarischen Aufbruch“. Auf bzw. bei der ein oder anderen Gesamtmitgliederversammlung und Basisorganisation hatte ich dazu zuletzt in unserem Stadtverband referiert und mit unseren Genoss*innen diskutiert. Das Papier sollte insgesamt (mehr) Beachtung finden, hierfür greife ich 3 Herausforderungen heraus:

  • „Erstens ist unübersehbar, dass der Aufbau eines Zentrums der strategischen Führung der Partei in der Einheit von Bundespartei und Bundestagsfraktion die nächste und dringlichste Herausforderung ist. Die damit verbundene Aufgabe muss 2022 gelöst werden, wenn DIE LINKE noch eine Zukunft haben soll.“
  • „Drittens kann sich DIE LINKE in der aktuellen Situation nur dann als sozialistische Gerechtigkeitspartei positionieren, wenn es ihr gelingt, sich als Partei des sozialökologischen Systemwechsels und konsequente Friedenspartei zu profilieren.“
  • „[Aus Siebentens][…] Zugleich sollte ein Prozess eingeleitet werden, der im Laufe eines Jahres dazu führt, die programmatischen Defizite in der Partei zu überwinden.“

Jetzt haben wir Ende März 2023 erreicht und ich stell(t)e mir vorab die folgenden Fragen:

  • Haben wir ein strategisches Zentrum in der Einheit von Bundespartei und Bundestagsfraktion im Jahr 2022 erreicht?
  • Konnten wir uns in den letzten 9 Monaten erfolgreich als sozialistische Gerechtigkeitspartei des sozialökologischen Systemwechsels sowie als konsequente Friedenspartei profilieren?
  • Wurden unsere programmatischen bereits Defizite überwunden? Oder schaffen wir dies bis Juni oder wenigstens Ende 2023?

Aufgrund der anhaltenden Spaltungstendenzen und der gleichzeitigen Gefahr, dass schon 4 Abgeordnete weniger ausreichen würden, um unserer Bundestagsfraktion den Fraktionsstatus zu nehmen, könnte die erste und dringlichste Herausforderung bereits an deren Existenz grundsätzlich scheitern. Dazu kommen wiederkehrende Debatten über die Besetzung von Fraktions- und Ausschussvorsitzenden. Für mich scheint dieses strategische Zentrum zumindest bisher nicht erkennbar zu sein, eine harte Interpretation dieser Herausforderung würde somit bedeuten: Eigentlich haben wir keine Zukunft mehr. Wohlwollend sind erste Anzeichen erkennbar, entsprechend bin ich persönlich noch optimistisch.

Kann ich bejahen, dass wir uns zuletzt erfolgreich als sozialistische Gerechtigkeitspartei des sozialökologischen Systemwechsels sowie als konsequente Friedenspartei profilieren konnten? Im Vergleich zu sämtlichen anderen Parteien im Deutschen Bundestag: sicherlich. Doch können wir angesichts der letzten Wahlergebnisse, aktuellen Umfrageergebnisse und Stimmungslage in unserer Partei zufrieden sein? Ich denke nicht.

Zur Frage, ob unsere programmatischen Defizite überwunden oder zeitnah überwunden werden können, fehlt mir tatsächlich jegliche Idee zur Bewertung. Hinzu kommt, dass bei sämtlichen kontroversen Fragen der letzten zehn Jahre (Flucht und Migration, Klima- und Corona-Politik, Ukraine-Konflikt), unsere Partei bzw. unsere prominenten Akteure nicht in der Lage waren, mit einer Stimme zu sprechen - Pluralismus wandelt sich zunehmend in Beliebigkeit. Es wurden teilweise gegensätzliche und im Extremfall sich ausschließende Positionen öffentlich vertreten. Vielleicht bin ich selbst nach knapp 5 Jahren Parteimitgliedschaft noch zu unerfahren, um es korrekt einzuordnen – gegebenenfalls ist’s jedoch auch ein Zeichen dafür, dass meine Antwort ebenso eher „nein“ lauten sollte.

Mein Eindruck ist zumindest, dass öffentlichkeitswirksame Aktionsformen bei kontroversen Themen nicht in Eigeninitiative oder wenn überhaupt eher schleppend und „mutlos“ in Angriff genommen wurden – die jüngsten, für mich einprägsamsten Beispiele dafür sind der „Heiße Herbst“ sowie der Jahrestag des Ukrainekrieges. Doch hätte unser Parteivorstand überhaupt die notwendige Solidarität und den sicheren Rückhalt unserer etablierten Akteure und Parteibasis dafür? Insbesondere beim „Nein zu Waffenlieferungen“ wirkt es teilweise so, als bestehe trotz Parteiprogramm, Beschlusslage und vermeintlicher Mehrheitsverhältnisse eine Art unsichtbares, indirektes „Veto“-Recht in unserer Partei, welches be- oder verhindert, diese Position mutig und öffentlichkeitswirksam nach außen zu vertreten – das ist hoffentlich nur ein persönlicher Eindruck, es wäre sonst zutiefst undemokratisch. Gleichzeitig fehlen offenbar eine hinreichende Analyse und eine darauf aufbauende nachvollziehbare Begründung dieser aus meiner Sicht dennoch richtigen Position – dieser Umstand zeigt sich in den schwankenden und teils gegensätzlichen Positionen sowohl bei unseren Mitgliedern als auch bei unseren (potenziellen) Wähler*innen. Als Einzelpersonen sind zumindest mit Janine Wissler und Martin Schirdewan meine Wunschkandidaten des letzten Parteitages unsere Vorsitzenden (zugegeben ist diese Position sicherlich nicht unbedingt repräsentativ unter den Befürwortern des Antrages). Von Tobias Bank habe ich ebenso einen sehr guten ersten Eindruck gewonnen. Dennoch empfinde ich wie viele anderen Genoss*innen die aktuelle Situation mehr als ernüchternd, demotivierend, fast aussichtlos – trotz alledem traue ich es unseren aktuellen Verantwortungsträgern zu, gemeinsam mit der Parteibasis selbstkritisch die Probleme aufarbeiten und letztlich das Ruder zusammen noch herumreißen zu können. 

Vielleicht ist meine Sichtweise hierbei auch naiv und idealistisch - jedoch optimistisch und transparent. In jedem Fall wird für mich eine klare Doppelstrategie sichtbar: Findet das Vorhaben mindestens 25 % der Zustimmung seitens aller Kreisverbände bzw. -vorstände, so wäre es eine Chance, gemeinsam als Parteibasis (Vertreten durch unsere gewählten Delegierten) und Parteivorstand die Verantwortung für die Situation unserer Partei zu tragen und explizit daran zu arbeiten. Findet der Vorschlag keine 25 %, so kann es ebenso als Zeichen der Solidarität mit dem aktuellen Parteivorstand interpretiert werden oder dass sich die Mehrheit unserer Partei selbst unsicher ist, eine bessere Antwort auf die aktuellen Problemlagen parat zu haben. Jedoch stellt sich somit die Frage: Wenn jetzt kein außerordentlicher Parteitag, welches Format dann? Die informellen Konferenzen der letzten Jahre beispielsweise im Rahmen der Strategiedebatte führten Stand jetzt nicht zum Ziel bzw. sind heute trotz dessen die Zustände umso gravierender. Die Bearbeitung bzw. Auflösung programmatischen Defizite – sollte deren Lösung verbindlich sowie demokratisch legitimiert im Parteiprogramm verankert werden – setzt Parteitage notwendigerweise voraus (umständliche Mitgliederentscheide einmal ausgeblendet). Aber ebenso die letzten Parteitage konnten aus verschiedenen Gründen diese Situation nicht beheben. Ergo komme ich zum Schluss: Außerordentliche bzw. zusätzliche ordentliche Parteitage explizit ohne größere "Pflichtaufgaben" bzw. (wichtige) Personenwahlen werden zukünftig notwendig sein – wenn nicht heute, dann morgen.

Letztendlich hängt die Abwägung, ob ein Sonderparteitag sinnvoll und erfolgreich sein kann, von vielen Faktoren ab, wie der Stimmung innerhalb der Partei, der Unterstützung der Mitglieder sowie natürlich des Parteivorstandes selbst, aber auch der politischen Situation im Land sowie letztlich auch der bloßen Umsetzbarkeit. Es ist wichtig, dass wir als Partei eine fundierte Entscheidung darüber treffen, wie wir am besten mit der aktuellen Krise umgehen. Diese darf aber nicht nur auf einem bloßen Bauchgefühl fußen, allein von einer dominanten und eher geschlossenen Gruppenmeinung in konkurrierenden Strukturen oder durch machtpolitische Interessen geleitet sein – was für befürwortende, skeptische als auch ablehnende Haltungen gilt. Manche ersten Reaktionen auf den Vorschlag wirken für mich unverständlich wie unfair, spiegeln jedoch sehr sinnbildlich die aktuelle Situation der Partei und den kritischen Umgang unter Genoss*innen und Parteistrukturen wieder, andere (insbesondere auch respektvoll ablehnende, aber begründete Antworten) sind dagegen sehr konstruktiv und erfreulich. In jedem Fall sollten wir uns gegenseitig respektvoll zuhören und fragend bei der Abwägung voranschreiten, anstatt in den eigenen Gruppen zu agitieren oder sich wie üblich über soziale Medien auszulassen und so die Debatte zu verzerren bzw. für andere Ziele zu instrumentalisieren.

Ist der von uns beschlossene Vorschlag nun der beste aller Wege? Ich weiß es nicht. Haben wir dabei alles richtig gemacht? Sicherlich nicht, wer kann das auch schon. Hätte dieser Vorschlag wenigstens besser vorab kommuniziert werden können? Bestimmt. Hätte das am Ende einen Unterschied gemacht? Ich bin skeptisch. Dafür sammeln sich die verschiedenen Positionierungen zu sehr in den bekannten verfestigen, etablierten Strukturen, die sich gegenseitig ablehnen oder teilweise schlichtweg einfach auf persönlicher Ebene "hassen" und in seltenen Fällen gegenseitig sogar lieber loswerden wollen. 

Ein Ziel und vielleicht meine persönliche Hauptabsicht ist bereits jetzt erfüllt. So kontrovers er am Ende auch war bzw. sein wird: Der Beschluss deckt sehr klar verschiedene Konflikte und Problemfelder unserer Partei auf und hat bereits jetzt einen (weiteren) Anstoß gegeben, den Prozess in Gang zu setzen, gemeinsam nach Lösungen aus der Krise zu suchen und aktiv für unsere sozialistische Gerechtigkeitspartei DIE LINKE zu streiten.

Was für den Parteivorstand gilt, gilt ebenso für uns als Stadtvorstand. Für unseren Stadtverband stehen wir in der politischen Verantwortung. Dafür sind wir angetreten, dafür wurden wir gewählt. Ich persönlich freue mich sehr über die ehrlichen Fragen, die solidarische Kritik und den – trotz teilweiser Befürchtungen und Skepsis bzgl. möglicher Ergebnisse – generationenübergreifenden Rückhalt, das Wohlwollen und die Solidarität innerhalb der mir nahe stehenden Genoss*innen, des Stadtvorstandes sowie der Aktiven meines eigenen Stadtbezirksverbandes Leipzig-Mitte - sicher gibt es weitere Personen und Strukturen. Entsprechend sehen viele dieser Menschen es als (eventuell etwas zu lauten) Weckruf und Aufmunterung - vielleicht zu spät, jedoch längst überfällig, wichtig und richtig. Ich hoffe zumindest, dass auch für weitere interessierte Genoss*innen meine Abwägungen und Beweggründe hiermit deutlich werden - auch wenn es letztlich wieder viel zu lang geworden ist.

Die Idee, Forderung oder zumindest der Wunsch nach einem Sonderparteitag liegt seit längerer Zeit in der Luft bzw.wurde er ebenso an anderer Stelle bereits vorher geäußert - insbesondere nach den Wahldebakeln der letzten Jahre. Bisher blieb es jedoch häufig beim gesprochenen Wort. Und natürlich gibt's einen Aufschrei, gerade wenn so ein Vorschlag aus Leipzig kommt - und dann auch noch aus DEM Leipziger Stadtvorstand. Das Problem ist jedoch nicht der Antrag, sondern die Situation unserer Partei - und die ist unbestreitbar kritisch. Letztlich kann man unsere Verfahrensweise zwar als falsch bewerten und ablehnen. Muss man aber eben nicht. Auf meiner Arbeit sagen wir häufig zu solchen Situationen: "Don't shoot the messenger." (Erschieße den Boten nicht), wenn schlechte oder unangenehme Nachrichten überbracht werden. Denn die führen häufig zu einem ehrlichen Problembewusstsein und ermöglichen einen zielführenderen Lösungsansatz.

Abschließend eine aus meiner Sicht treffende Passage aus einem der Medienbericht von oben:

Michael Lauter, der Initiator des Antrags, sagte »nd«, die Partei befinde sich in einer dramatischen Abwärtsspirale. Diese gelte es zu beenden: »Es muss jetzt ein Ruck durch die Partei gehen.« Sorge davor, dass ein Sonderparteitag zu einer Art letztem Gefecht innerhalb der Linken werden könnte, habe er nicht: »Bisher hat sich, wenn es darauf ankam, immer die Vernunft durchgesetzt.«